Forschung schafft neue Einblicke in Entstehung seltener Erkrankungen

Ein erstmalig beschriebener epigenetischer Mechanismus der Genregulation ermöglicht neue Einblicke in die Entstehung und Ätiologie seltener Erkrankungen.

Di, 02.03.2021
Ein internationales Forschungsteam aus Berlin und Lausanne entdeckt einen neuen epigenetischen Mechanismus als Ursache einer sehr seltenen Erkrankung, die bei betroffenen Patientinnen und Patienten zu ausgeprägten Fehlbildungen der Arme und Beine führt. In der Fachzeitschrift Nature beschreiben die Forschenden, wie ein bisher nicht näher untersuchter Abschnitt im nicht kodierenden Bereich des Genoms ein für die Entwicklung benötigtes Gen reguliert und eröffnen damit neue Einblicke in die mögliche Ursache weiterer seltener Erbkrankheiten (1).

Seit vor 20 Jahren das menschliche Genom das erste Mal vollständig sequenziert wurde, hat sich viel in der medizinischen Forschung verändert. Lange lag der Fokus im Bereich der Genetik auf den sogenannten kodierenden Sequenzen, also Genen, welche den Bauplan für Proteine liefern. Im menschlichen Genom gibt es etwa 20.000 Gene. Vor 20 Jahren war dies zunächst eine Überraschung, denn selbst das staatlich organisierte Humangenomprojekt ging noch im Jahr 2001 von bis zu 40.000 Genen aus, andere Schätzungen sogar darüber hinaus (2). Der Anteil dieser kodierenden Sequenzen am gesamten menschlichen Genom macht jedoch nur etwa 2% aus. Der nicht kodierende Bereich zwischen diesen Genen, also 98% des menschlichen Erbguts, wurde lange Zeit als im Laufe der Evolution unnötig angehäufter und nutzloser Ballast angesehen und von der Forschung vernachlässigt – zu Unrecht wie sich im Laufe der Zeit zeigte: Viele dieser Bereiche sind von entscheidender Bedeutung, um beispielsweise die Aktivität von Genen präzise zu regulieren. Für genau diese Regulation haben Dr. Lila Allou et al. einen neuen Mechanismus entdeckt, bei dem ein nicht-kodierender Abschnitt vor dem Gen engrailed-1 (En1) abgelesen werden muss, um dieses Gen einzuschalten und das entsprechende Protein zu bilden (1,3).

Die Rolle des Gens En1 ist bereits seit längerem bekannt für die Entwicklung des Kleinhirns, des Mittelhirns und der dorsoventralen Orientierung der äußeren Gliedmaßen (4). Ist die Funktion des Gens durch Mutationen gestört, finden sich bei Betroffenen entsprechende Fehlbildungen. Ärztinnen und Ärzte in Brasilien und Indien berichteten jedoch erstmals von drei nicht miteinander verwandten Patienten, die eine normale Entwicklung des Gehirns aufwiesen, deren Extremitäten jedoch stark verformt waren: so waren ihre Beine stark verkürzt und ihre Knie nicht nach vorne ausgerichtet, ihre Finger teilweise miteinander zusammengewachsen und Nägel auf der Unterseite der Finger. Eine Analyse des Genoms ergab bei allen Patienten jeweils homozygote Deletionen nicht kodierender Sequenzen an den gleichen Stellen vor En1 - das Gen selbst war nicht beeinträchtigt.

In Zusammenarbeit mit Forschenden der Charité in Berlin identifizierte die Wissenschaftlerin Dr. Lila Allou am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik ein bisher nicht beschriebenes nicht kodierendes Transkript (lncRNA) in dieser Region. Im Mausmodell untersuchten und erkannten die Forschenden auch die Rolle dieses Maenli (für master regulator of En1 in the limb) getauften nicht kodierenden Bereiches in der Regulierung von En1. Sie konnten nachweisen, dass Maenli zum Zeitpunkt der Embryonalentwicklung in den Extremitäten der Mäuse für die Aktivierung von En1 und damit die Orientierung und korrekte Ausbildung der Extremitäten benötigt wird. Erstaunlicherweise erscheint die Sequenz selbst für diese Funktion weniger von Bedeutung, sondern vielmehr ihr gezieltes Ablesen. So konnte auch eine alternative Sequenz an derselben Stelle das Ausmaß der Fehlbildungen bereits reduzieren.

Der genaue Mechanismus hinter der Aktivierung von En1 durch die Bildung von Maenli ist noch nicht vollständig geklärt und wird weiter erforscht. Bereits jetzt ist jedoch einmal mehr klar, wie wichtig die Rolle nicht kodierender Sequenzen im Genom ist. In genetischen Varianten dieses umfassenden Bereichs liegt die Ursache vieler weiterer genetischer Erkrankungen verborgen, die sich bisher unserem Verständnis entziehen. Ihre Ursachen aufzuklären würde die Diagnose für betroffene Patientinnen und Patienten erleichtern und für einige Erkrankungen möglicherweise auch neuen Therapieoptionen den Weg ebnen.

Seltene Erkrankungen liegen uns bei SKC besonders am Herzen. Zum Thema seltene Erkrankungen finden Sie daher auch viele weitere Blogartikel, insbesondere zum Rare Disease Day 2021.

Weitere Informationen finden Sie hier:

(1) Allou L, et al. (2021) Noncoding deletions identify Maenli lncRNA as a limb specific En1 regulator. Nature.

(2) https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2001/daz-11-2001/uid-389

(3) https://www.molgen.mpg.de/4367817/news_publication_16385303_transferred?c=228720

(4) Wurst W, et al. (1994). Multiple developmental defects in Engrailed-1 mutant mice: an early mid-hindbrain deletion and patterning defects in forelimbs and sternum. Development.

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Ihr Ansprechpartner Dr. rer. nat. Daniel Brand
Dr. rer. nat. Daniel Brand
M. Sc. Biomedizin
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